Zündholz und Kerze

 

Es kam der Tag ‑ da sagte das Zündholz zur Kerze:

„Ich habe den Auftrag, dich anzuzünden."

„O nein", erschrak die Kerze, „nur das nicht. Wenn ich brenne, sind meine Tage gezählt. Niemand mehr wird meine Schönheit bewundern."

 

Das Zündholz fragte: „Aber willst du denn dein Leben lang kalt und hart bleiben, ohne zuvor gelebt zu haben?" „Aber Brennen tut doch weh und zehrt an meinen Kräften", flüsterte die Kerze unsicher und voller Angst.

 

„Es ist wahr", entgegnete das Zündholz. „Aber das ist doch das Geheimnis der Berufung: Du und ich, wir sind berufen, Licht zu sein. Was ich als Zündholz tun kann, ist wenig. Zünde ich dich aber nicht an, so vergesse ich den Sinn meines Lebens. Ich bin dafür da, Feuer zu entfachen. Denn du bist eine Kerze. Du bist da, um zu leuchten und Wärme zu schenken. Alles, was du an Schmerz und Leid und Kraft hingibst, wird verwandelt in Licht. Du gehst nicht verloren, wenn du dich verzehrst. Andere werden dein Feuer weitertragen. Nur wenn du dich versagst, wirst du sterben."

 

Da streckte sich die Kerze voller Erwartung aus und sprach:

„Ich bitte dich, zünde mich an!" 

 

(Walter Reisberger)



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