Die alte Dame am Telefon

 

Nach einer wahren Begebenheit.

 

Eine Novembernacht 1953 in Kopenhagen. Es ist 2.30 Uhr in der Nacht. Der Feuerwehrmann Christian hat Dienst und langweilt sich seit ein paar Stunden. Die Nächte sind um diese Jahreszeit sehr lang. Christian ist sehr jung, erst 22 Jahre, nicht besonders gebildet, jedoch bemerkenswert intelligent und voller Enthusiasmus für seinen Beruf. Im Augenblick spielt er Karten mit seinem Kollegen Carl.

 

Das Telefon läutet. Christian meldet sich: "Hallo, Hauptfeuerwache Kopenhagen." Er bekommt keine Antwort, aber es ist jemand am Telefon. "Hallo, melden Sie sich doch. Wer ist da?"

 

Carl brummelt nur. Wahrscheinlich wieder einer, der sich nur einen Spaß machen will. Doch Christian unterbricht ihn. "Sei mal ruhig. Ich höre jemanden atmen. Hallo! Wer ist am Apparat. Wenn es ernst ist, sagen Sie irgendetwas, aber melden Sie sich bitte."

Da vernimmt er eine schwache Stimme, offenbar die Stimme einer alten Frau: "Ich bin gestürzt, helfen Sie mir."

"Sie sind gestürzt? Wo denn? Sagen Sie mir, wo Sie sind."

"Ich... weiß...es...nicht..." sagt die geschwächte Stimme.

"Sie wissen nicht, wo Sie sind? Das gibt's doch nicht. Sind Sie zu Hause? Wo wohnen Sie denn?"

"Ich glaube, ja. Ich bin wahrscheinlich... bin ich...zu Hause..."

 

Christian ist noch sehr unerfahren und hat gerade erst seine Probezeit bei der Feuerwehr absolviert. Er spürt aber sofort instinktiv, dass es sich hier nicht um irgendeinen dummen Scherz handelt und bittet seinen Kollegen den zweiten Hörer aufzunehmen.

 

"Sie wissen nicht genau, ob Sie zu Hause sind? Wo befinden Sie sich? In einer Wohnung?"

"Ja, es ist... eine Wohnung. Ich bin gefallen... auf den Teppich und ich kann mich nicht bewegen."

"Wo ist die Wohnung? Geben Sie uns bitte die Adresse"

"Ich weiß nicht... Ich glaube, ich bin zu Hause, aber ich weiß die Adresse nicht."

"Na gut. Hören Sie genau zu und bleiben Sie ganz ruhig. Sagen Sie uns nur, wie Sie heißen."

"Ich weiß es... nicht. Ich kann mich nicht erinnern. Ich weiß nur, dass ich nicht mehr aufstehen kann.

"Das macht nichts, aber hängen Sie auf keinen Fall den Hörer auf. Wir werden die Wohnung über Ihr Telefon durch den Ortungsdienst der Post lokalisieren. Hallo! Hallo!"

 

Die alte Dame hat den Hörer aufgehängt. Der junge Feuerwehrmann ist völlig ratlos. "Sie hat aufgehängt, was machen wir jetzt"

"Nichts!, meint Carl. Da kann man nichts machen. Wir können nur warten. Vielleicht ruft sie nochmal an. Aber glaub mir, es war bestimmt nur ein Scherz. Daran sind wir hier schon gewöhnt. Das wirst du hier noch oft genug erleben."

"Nein, das glaube ich nicht. Das ist kein Scherz. Wir müssen doch etwas tun können."

"Nein, wir können nur warten. Wenn es so ernst ist, ruft sie wieder an, deine alte Dame."

 

Und tatsächlich, ein paar Minuten später läutet das Telefon wieder.

Ein Seufzer, schweres Atmen in der Leitung, die selbe, alte, schwache Stimme wie vorhin: "Hallo, ich bin ohnmächtig geworden... Ich wollte nicht aufhängen. Der ganze Teppich ist voller Blut. Ich bin verletzt. Ich habe Angst... Bitte helfen Sie mir..."

 

Dieses Mal bringt der junge Feuerwehrmann seinen Kollegen auf Trab: "Ruf den Ortungsdienst an. Schnell, wir müssen feststellen, woher der Anruf kommt!" Dann spricht er wieder mit der alten Dame: "Wo sind Sie verletzt?"

"Ich weiß nicht... Ich weiß nur, dass ich viel Blut verliere... Ich sterbe bestimmt."

 

Christian weiß nicht recht, was er darauf sagen soll; er versucht die alte Dame zu beruhigen: "Aber nein, so schnell stirbt man nicht. Bleiben Sie ganz ruhig. Wir kümmern uns schon um Sie. Der Ortungsdienst der Post versucht gerade, Ihr Telefon ausfindig zu machen. Sie erinnern sich nicht zufällig an Ihre Telefonnummer, oder?"

"Nein... ich weiß nicht mehr... mir wird ganz schwindlig."

"Hören Sie, bitte hängen Sie nicht wieder auf! Legen Sie den Hörer auf den Teppich. Sie brauchen keine Angst zu haben; wir kommen so schnell wie möglich."

 

Unterdessen ruft Kollege Carl den Ortungsdienst der Kopenhagener Post an und erklärt die Dringlichkeit des Falles: "Wir haben die Dame noch in der Leitung. Können Sie den Anschluss lokalisieren?"

"Wissen Sie eigentlich wie spät es ist? 3:30 Uhr in der Nacht. Hier ist niemand mehr da. Ich bin nur der Nachtwächter. Aber um festzustellen zu können, woher ein Anruf kommt, bedarf es eines Technikers. Ich weiß nicht, wie man sie erreichen kann. Ich kann Ihnen nicht helfen, tut mir leid!"

 

Carl erklärt seinem Kollegen: "Der Ortungsdienst kann uns jetzt nicht helfen. Jetzt liegt es an uns. Wir müssen alles versuchen. Es bleibt nur noch eine Möglichkeit, mit der alten Dame so lang wie möglich im Gespräch bleiben. Vielleicht fällt ihr doch noch was ein, was uns weiterhilft."

 

Jetzt übernimmt Carl als älterer und erfahrener Feuerwehrmann den Hörer: "Hallo, sind Sie noch da?" Ein paar Sekunden vergehen, dann erklingt die schwache Stimme: "Ja, ich bin noch da."

"Bluten Sie noch, woher kommt das Blut?"

"Ich... ich weiß es nicht. Ich fühle nichts, vor allem... ich kann meine Beine überhaupt nicht bewegen...

"Also, Sie sind gestürzt und haben sich verletzt. Und Sie haben keine Schmerzen?"

"Nein, weh tut mir nichts... Ich bin nur gelähmt... Aber die Beine bluten nicht, ich glaube, es ist der Kopf. Alles voll Blut..."

"Hören Sie, Sie müssen ganz vorsichtig sein, vielleicht ist die Wirbelsäule verletzt. Sie dürfen sich auf keinen Fall bewegen, verstehen Sie? Wie sind Sie denn gestürzt?"

"Wahrscheinlich... bin ich aus dem Bett gefallen. Ich weiß nicht mehr... Ich bin bestimmt zu Hause, denn ich bin ganz allein hier."

"Vielleicht wohnt aber doch noch jemand mit Ihnen in der Wohnung und schläft nebenan. Bitte, denken Sie nach! Haben Sie schon versucht zu rufen?"

"Ja, aber... meine Stimme ist zu schwach. Da hört mich bestimmt...niemand."

"Na gut. Also, Sie sind aus Ihrem Bett gefallen. Wo stand das Telefon?"

"Auf dem Nachtisch... glaube ich. Jetzt liegt es neben mir auf dem Teppich. Als ich zu mir kam... habe ich den Freiton gehört und die 18 gewählt, die auf dem Apparat steht."

"Wenn das Telefon neben dem Bett steht, vermute ich, dass Sie allein wohnen und ich vermute auch, dass Sie sich nur schwer bewegen können. Denken Sie bitte nach: Waren Sie vielleicht schon vorher gelähmt - bevor Sie hingefallen sind?"

"Vielleicht, ja, vielleicht... jetzt, wo Sie es sagen... ich glaube, ja."

"Dann gibt es bestimmt jemanden, der sich um Sie kümmert. Erinnern Sie sich vielleicht an den Namen eines Arztes?"

"Nein...nein"

"Oder gibt es vielleicht jemanden, der Ihnen regelmäßig Spritzen gibt; eine Frau, die Ihnen den Haushalt besorgt?"

Dem Feuerwehrmann fällt langsam nichts mehr ein, was er noch fragen könnte und die Zeit vergeht.

"Liegt vielleicht ein Rezept auf Ihrem Nachttisch? Oder auf dem Teppich?

"Nein, ich sehe nichts... Doch, warten Sie, da ist eine Schachtel."

"Können Sie sie erreichen, ohne sich zu sehr zu bewegen?"

"Ja, ich glaube schon... wenn ich die Hand ausstrecke, vielleicht..."

"Gut, dann nehmen Sie sie und lesen Sie mir vor, was darauf steht, wenn es geht."

 

Es dauert eine Weile, aber schließlich kann die alte Dame Buchstabe für Buchstabe diktieren. Carl notiert alles und bittet Christian in der Nachtapotheke herauszufinden, um welches Medikament es sich handelt. Es ist ein einfaches Einreibungsmittel zur Lockerung der Muskulatur. Das Mittel nutzt bei vollständiger Lähmung nichts, so geht der Apotheker davon aus, dass die alte Dame nicht ganz gelähmt ist und wohl einen Bewegungstherapeuten haben muss. Carl ergreift sofort diesen Strohhalm und fragt die alte Dame: "Können Sie sich erinnern, ob Sie vielleicht von einem Bewegungstherapeuten behandelt werden? Sagt Ihnen das etwas?"

"Ja... aber ich kann mich an den Namen nicht erinnern."

"Gut, passen Sie auf. Ich nehme jetzt das Telefonbuch und lese Ihnen die Namen aller Bewegungstherapeuten in der Stadt vor. Wenn Sie den Namen erkennen, sagen Sie es mir, ja?"

 

Eine halbe Stunde später ist Carl beim Namen Nr. 39 angekommen. Mehrmals musste er unterbrechen, um die alte Dame zu beruhigen, die immer wieder klagt, dass sie blutet und bestimmt gleich stirbt. Der 43. Therapeut heißt Henning Thomsen. Die alte Dame stößt einen schwachen Ruf aus: "Das ist er...Henning...Thomsen..."

 

Es ist nun 5 Uhr früh. Noch immer liegt die schwarze Nacht über Kopenhagen. Sekunden später wählt der junge Feuerwehrmann Christian die Nummer des Therapeuten. Es dauert lang bis sich eine verschlafene Stimme meldet: "Es tut mir leid, aber Herr Thomsen ist übers Wochenende verreist. Er ist nicht erreichbar. Ich kann Ihnen nichts sagen, die Patienten von Herrn Thomsen kenne ich nicht."

 

Die letzte Hoffnung. Jetzt ist es endgültig aus. Die alte Dame wird irgendwo in der großen Stadt verbluten. Sie wird immer schwächer. Nur noch ein Wunder könnte sie retten. Beide Feuerwehrmänner sind ratlos und entmutigt. Es muss doch eine Rettung möglich sein. Aber wie. Die alte Dame muss sich doch an irgendetwas erinnern können, wenn sie schon den Namen des Therapeuten erkannt hat.

 

Also greift Feuerwehrmann Carl wieder zum Hörer: "Hallo, hören Sie mich? Wie geht es Ihnen? Können Sie noch sprechen?" Die Stimme der alten Frau ist kaum noch hörbar."

 

"Hallo, hören Sie! Sie müssen uns helfen! Versuchen Sie es! In Ihrem Zimmer brennt doch Licht, oder?

"Ja"

"Beschreiben Sie uns bitte, was Sie sehen. Wie sieht Ihre Wohnung aus? Das kleinste Detail kann uns weiterhelfen."

"Den Teppich...voller Blut..."

"Moment mal, Sie sagen Teppich. Ist es ein Teppichboden oder ein Bettvorleger, der vielleicht auf einem Parkett liegt?"

"Ja, ein altes Parkett."

"Sehr gut. Und wie ist die Decke? Ist sie hoch?"

"Ja, sehr hoch mit Stuck..."

"Mit Stuck, dann ist es also ein altes Haus! In Ihrem Zimmer gibt es doch ein Fenster, wie sieht es aus?"

"Schmal... hoch..."

"Mit zwei Flügeln und einem Fensterriegel, nicht wahr? Hat es Vorhänge?"

"Es ist... wie Sie es sagen... aber keine Vorhänge."

"Sind die Fensterläden geschlossen?"

"Nein, ich kann die Mauer gegenüber sehen... Sie ist beleuchtet, ich glaube es ist... eine Laterne da."

"Gibt es neben Ihrem Haus irgendein Geschäft, an das Sie sich erinnern. Irgendein Straßenname, vielleicht ein wichtiges Gebäude in der Nähe? Gibt es Bäume? Etwas in der Nähe, das Ihnen einfällt?"

 

Aber die Frau antwortet nun nicht mehr nach dieser Anstrengung. Carl wiederholt fieberhaft alle Details. Der junge Feuerwehrmann Christian schreibt alles genau auf. Also: Zu finden ist ein altes Haus mit schmalen Fenstern in einer engen Straße, denn die Frau kann die Mauer gegenüber sehen. Das Fenster ist hell, wahrscheinlich im Erdgeschoß oder im 1. Stock, sonst könnte sie die Straßenlaterne nicht wahnnehmen.

Carl seufzt: "Das ist alles schön und gut, aber das bringt uns überhaupt nicht weiter! Ein helles Fenster irgendwo in Kopenhagen. Wie soll man es finden? In welchem Viertel soll man überhaupt suchen? Wenn sie doch nur noch etwas in Ihrer Straße beschreiben könnte, etwas woran sie sich erinnert."

 

Er greift wieder zum Hörer: "Hallo? Hören Sie mich noch?"

 

Aber die alte Dame antwortet nicht mehr. Sie hat aber nicht aufgehängt.

"Wahrscheinlich ist sie wieder ohnmächtig - oder vielleicht schon tot", blickt Carl seinen jungen Kollegen mutlos an. "Jetzt ist es endgültig aus."

"Häng trotzdem nicht auf!" meint Christian. "Vielleicht wacht sie doch noch mal auf."

"Aber wir blockieren nun seit über 2 Stunden die Notrufleitung."

"Häng bitte nicht auf. Die Leute können auch bei der Polizei anrufen, wenn es irgendwo brennt und die verständigen uns dann. Die Chancen stehen eins zu einer Million, dass die arme Frau wieder aufwacht, aber bleib am Hörer, vielleicht gibt es doch noch Hoffnung..."

 

Beide Feuerwehrleute warten eine ganze Weile, plötzlich fährt Christian aufgeregt hoch. "Ich habe eine Idee! Aber du wirst sie bestimmt für total verrückt halten!"

 

Eine halbe Stunde später, nachdem Kollegen und die Vorgesetzten geweckt und verständigt wurden und diese schließlich ihre Einwilligung gegeben haben, wird die verrückte Idee des jungen Feuerwehrmannes Christian ausgeführt, obwohl fast keiner so recht an einen möglichen Erfolg glauben will.

 

Vierzehn Feuerwehrautos mit heulenden Sirenen rücken aus. Es ist mittlerweile 5.45 Uhr und noch immer stockdunkel. Jedes Fahrzeug hat Anweisung in einem bestimmten Stadtviertel alle Straßen zu durchfahren und alle Einsatzwagen sollen ständig mit der Zentrale in Funkverbindung bleiben. Dort sitzt der junge Feuerwehrmann Christian, das Telefon an einem Ohr und den Kopfhörer des Funkgerätes am anderen. Irgendwann muss doch eine Sirene im Telefon der alten Frau zu hören sein. Sie hat nicht aufgelegt und die Fensterläden sind offen. Also müsste man irgendwann eine der vierzehn Sirenen hören können!

 

Nach einer halben Stunde ist ganz Kopenhagen auf den Beinen. Überall brennen die Lichter. Um 6.15 Uhr, als der Oberbranddirektor gerade den ganzen Klamauk stoppen will, da ihm Bürgermeister und Journalisten schon attackieren, was der ganze Unsinn zu bedeuten habe, hört Christian ein Sirene im Telefon der alten Dame. Ganz leise, aber ein Wagen muss in der Nähe sein. Nacheinander schalten nun alle Einsatzwagen die Sirenen ab. Als Wagen 12 die Sirene abschaltet, schreit Christian: "Das ist sie. Die Sirene 12!" Wagen 12 schaltet die Sirene wieder ein und Christian hört sie deutlich durchs Telefon. Als das Geräusch sehr laut wird, weist Carl den Einsatzwagen an: "Ihr müsst jetzt ganz nah sein, wahrscheinlich schon in der betreffenden Straße. Die Sirene ist sehr gut durch das Telefon der alten Dame zu hören. Bitte weist die Bevölkerung nun an, alle Lichter auszuschalten. Dann wird nur das Fenster der alten Dame erleuchtet bleiben."

 

Christian hängt mit voller Spannung am Telefonhörer. Er hört, wie die Einsatzkräfte über Lautsprecher die Bevölkerung auffordern, alle Lichter abzuschalten. Dann ist Stille, doch, da! Ein Aufbrechen einer Tür! Die Feuerwehrmänner haben die Wohnung gefunden. Ein Kollege nimmt den Hörer in die Hand und sagt: "Hallo Zentrale, wir haben das Zimmer gefunden. Die Frau ist ohnmächtig und liegt in einer Blutlache, ihr Puls ist sehr schwach, aber sie lebt noch. Wir bringen sie jetzt ins Krankenhaus." Und er legt den Hörer auf. Christian atmet erleichtert auf.

 

So konnte Ellen Thorndall, 72 Jahre alt und seit mehreren Jahren an beiden Beinen gelähmt, auf wundersame Weise gerade noch gerettet werden. Dies verdankte sie dem jungen Feuerwehrmann Christian, der mit einer verrückten Idee eine ganze Stadt früh morgens mit heulenden Sirenen aufgeweckt hatte.

 

(Pierre Bellemare)



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