Schuldig - nicht schuldig? |
Zwei Schieferdecker hatten auf der Spitze eines sehr hohen Kirchturmes eine neue Wetterfahne anzubringen; die dazu nötigen Leitern waren am Tag vorher angelegt worden. Der eine Schieferdecker war ein alter, erfahrener Meister, der andere sein Sohn, der eine Frau und vier Kinder hatte. Sie stiegen höher und höher, von Sprosse zu Sprosse, der Alte voran, der Sohn hinterdrein, beide mit einer Hand sich festhaltend und mit der andern die schwere Wetterfahne tragend. Unten stand eine Menschenmenge, um lautlos, mit stockenden Pulsen und selbst fast schwindelig, der waghalsigen Arbeit zuzuschauen.
Da hört man oben einen Schreckensruf erschallen; der Sohn hat ihn ausgestoßen; der Vater antwortet ruhig und ermahnend; der Sohn ruft wieder, und gleich darauf stößt die Menge einen einzigen, vielstimmigen Schrei des Entsetzens aus, denn der Alte hat den Sohn, der ihn am Fuße fasste, mit einem kräftigen Tritt von der Leiter geschleudert, so dass er in die grausige Tiefe stürzt und dort zu einem wirren Haufen von Fleisch und Knochen zerschellt.
Unten am Turme folgen nun Szenen der Aufregung, welche nicht beschrieben werden können. Oben aber steigt der Alte weiter in die Höhe, die Fahne nun allein tragend. Bei der Spitze angekommen, steckt er die Fahne mit einer unglaublichen, wahrhaft riesigen Anstrengung all seiner Kräfte auf die Spindel. Dann kommt er so ruhig und kaltblütig, als ob nichts geschehen sei, langsam und sicher wieder herabgestiegen, Leiter um Leiter über sich von den Haken lösend und in die Dachfenster des Turmes schiebend, bis er im Schallloch der Glockenstube verschwindet.
Vor der Turmtür wartet die wütende Menge, bereit, ihn zu lynchen; er kommt aber nicht. Man dringt in den Turm und findet ihn oben in der Glockenstube, wo er in dem Augenblick, in dem er den festen Boden unter sich gefühlt hat, besinnungslos zusammengebrochen ist. Er wird nach Hause gebracht und erwacht nur, um im hitzigen Fieber monatelang von dem entsetzlichen Moment zu phantasieren, wo er gezwungen gewesen ist, seinen Sohn in den entsetzlichen Tod zu stürzen. Die Kunst der Ärzte rettet ihn; aber sobald die Beine noch kaum imstande sind, ihn zu tragen, geht er auf das Gericht, um sich dem Staatsanwalt auszuliefern.
Der Fall erregte natürlich ungeheures Aufsehen und wurde überall besprochen, mündlich und auch in den Zeitungen. In juristischen Kreisen war man der Ansicht, dass die Anklage wegen Mordes unbedingt aufrecht zu erhalten und der Alte unbedingt zu verurteilen, dann aber der Gnade des Monarchen zu empfehlen sei. Das Publikum verweigerte dem Täter zunächst jede Entschuldigung, lernte aber gar bald, als es die Gründe seines Handelns erfuhr, anders denken:
Ja, er hatte die Tat mit Überlegung begangen, aber was hatte ihn dazu veranlasst? Der Sohn hatte ihm plötzlich zugerufen, er sei vom Schwindel ergriffen worden, so dass sich alles um ihn zu drehen scheine. »Mach die Augen zu, und halte dich fest, bis es vorüber ist; ich warte!« mahnte ihn der Alte, der an einen kurz vorübergehenden Anfall dachte. »Ich kann nichts festhalten; ich fühle nichts,« schrie der Sohn, indem er die Fahne fahren ließ und den Fuß des Alten ergriff. Dieser erkannte mit Schaudern, dass es kein Warten und kein Vorübergehen gab; es war einer jener Anfälle, die den Betreffenden vollständig entmannen, in denen Hilfe unmöglich ist. Der Helfer wird nur selbst mit ins Verderben gezogen. In einem einzigen kurzen Augenblick vergegenwärtigte er sich seiner fürchterliche Lage. Die schwere Wetterfahne in der Linken, musste er sich mit der Rechten festhalten; am Fuße hatte er den Sohn hängen; er fühlte die zentnerschwere Last, die ihn von der Leiter weg und in die Tiefe ziehen wollte.
Er wusste, dass er dies nur wenige Augenblicke aushalten könne und dann mit hinab müsse. Ja, hätte er unter dem Sohne gestanden, so hätte er ihn stützen und vielleicht, vielleicht doch retten können, so aber war dieser unbedingt verloren. Sollte der verhängnisvolle Schwindel zwei Menschenleben kosten anstatt nur eines? Sollte die arme Familie außer dem einen Ernährer auch noch den zweiten verlieren? War es nicht Selbstmord, sich mit hinab reißen zu lassen, wo er sich doch, freilich nur sich allein, halten konnte? Da rief der Sohn: »Gott, ich fühle die Leiter nicht mehr; ich stürze, ich falle!« Er hing nur noch am Fuße des Vaters. Da erkannte dieser, dass das Grässliche nicht zu umgehen sei, dass es geschehen müsse; er stieß den Sohn mit einem kräftigen Tritte von sich ab und von der Leiter. Er hörte den vielstimmigen Schrei der Zuhörer; er sah nicht hinab; es flimmerte ihm vor den Augen; sein Herz wollte stillstehen; aber er musste stark bleiben und raffte sich mit Aufbietung aller seiner Kräfte zusammen. Wie im Traume, in einem Zustande seelischer Stumpfheit stieg er empor und vollendete seine Aufgabe. So stieg er dann auch wieder herab und barg die Leitern, eine nach der andern; aber sobald er sich dann in der Glockenstube befand, verließen ihn die Kräfte und er brach besinnungslos zusammen.
Diese Schilderung klang nun für die Ankläger ganz anders und sie fühlten bald mit dem Vater, besonders diejenigen, die ihn vorher verurteilt hatten. Er bekam einen ausgezeichneten Verteidiger und dieser tat seine Pflicht. Gelehrte, Sachverständige, Universitätslehrer, mussten ihre Ansichten über den Schwindel und seine Wirkungen einreichen. Eine ganze Anzahl von Dachdeckern, Zimmerleuten und andern Bauhandwerkern wurde vernommen. Essenkehrer, sogar ein Seilkünstler, meldeten sich freiwillig, um ihr Urteil zu Gunsten des Beschuldigten abzugeben. Sie alle, ohne eine einzige Ausnahme, behaupteten, dass er nicht anders habe handeln können, dass sein Sohn unbedingt verloren gewesen sei.
So wurde er freigesprochen und aus der Untersuchungshaft entlassen. Diejenigen, welche ihn im Augenblicke der Aufregung hatten lynchen wollen, empfingen ihn jubelnd am Tore des Gerichtsgebäudes. Er lebte noch eine Reihe von Jahren, geachtet von allen, die ihn kannten. Man sagt, er habe nie wieder lachen oder auch nur lächeln können. Es war ihm unmöglich, die Tat, zu der er sich gezwungen gesehen hatte, zu verwinden, aber es hat keinen einzigen Menschen gegeben, dem es in den Sinn gekommen wäre, sie ihm vorzuwerfen.
(Aus den Erzählungen von Karl May, 1894)